Thema: Unter Anklage: Harry Wörz Mo 3 Feb 2014 - 12:55
Das ist ein Thema, welches mich seit Tagen verfolgt, seitdem ich den Fernsehfilm gesehen habe. Unter "TV" wäre es wohl verkehrt am Platz, deshalb stelle ich es mal hier rein.
Vom Fehler kein Polizist zu sein
Akten verschwinden, Beweise sind plötzlich weg: Die ARD zeigt einen sehenswerten Film über den zu Unrecht verurteilten Harry Wörz. Ohne Pathos erzählt er von einem unglaublichen Justizirrtum und bleibt dabei nahe an der erschreckenden Realität.
"I henn doch nix gmacht", sagt er. Es ist einer der ersten Sätze, ein Satz, in dem das Erstaunen immer noch mitschwingt, die Verwunderung, wie es so weit kommen konnte. Mit ihm, und mit dem, was man den deutschen Rechtsstaat nennt. Oder nannte. Denn der Rechtsstaat ist nicht ganz unbeschädigt aus dem Fall Harry Wörz hervorgegangen.
"Die wollten von Anfang an, dass Harry Wörz verurteilt wird", sagt Harry Wörz über sich selbst. Sein Leben verlief lange in überschaubaren Bahnen, er lernte Bauzeichner, lebte im Badischen, bekam ein Kind und ließ sich scheiden. Sein einziger Fehler war es wohl, kein Polizist zu sein. Im Jahr 1997 wurde seine Ex-Frau fast tot in ihrer Wohnung gefunden, jemand hatte versucht, sie zu erwürgen. Sie hat überlebt, aber nur der Körper, nicht der Geist. Sie konnte nie erzählen, wer der Täter war.
Dafür redeten andere, der Schwiegervater war in zwei Rollen der erste am Tatort, als Vater des Opfers und als Polizist. So wie alle Polizisten waren in diesem Fall, die Ex-Frau, deren Geliebter, der Schwiegervater. Nur Harry Wörz nicht. Die gesamte Pforzheimer Polizei hielt ihn schnell für den Täter, die Gerichte folgten ihr. Obwohl Akten verschwanden, Beweise nicht mehr zu finden waren.
Wörz wurde zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt und kam ins Gefängnis, zwölf Jahre brauchten die Gerichte, um ihr Unrecht zu erkennen. Am Mittwochabend spricht ihn das Fernsehen noch einmal frei, in Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz. Das große Drama seines Lebens hat der ARD-Film in vielen kleinen Momenten aufgefangen. Da liegt er neben seiner neuen Frau im Bett, zwischen ihnen die Akten des Verfahrens.
Es kann jedem passieren
Der Film hat der Versuchung widerstanden, diese unglaubliche Geschichte im Pathetischen aufzufangen. Er ist nah dran geblieben an Harry Wörz. Schnauzer, Karo-Kurzarmhemd. Wenn er sich vorstellt, dann mit dem Nachnamen zuerst. Wenn man den echten Wörz einmal erlebt hat, dann ist es schon erstaunlich, wie nahe Rüdiger Klink ihm gekommen ist: der Sprache, dem Gang, dem aufrichtigen Kleinbürgertum.
Der echte Wörz war hin und wieder am Set, hat zugeguckt, wie aus seinem Leben ein Film wird. "Wir wollen zeigen, dass das, was Harry passiert ist, jedem passieren kann, dass jeder in das Netz der Justiz geraten kann, ohne eigene Schuld", sagt Produzent Sascha Schwingel.
Es ist ein Film ohne Happy-End, so wie es im echten Leben von Wörz bisher auch keines gegeben hat. Wörz weiß, auf welcher Seite der Akten welche Aussage zu finden ist. Ein paar Mal geht das so im Film, dass Wörz aus den Akten zitiert, die überall in seiner Wohnung herumliegen, die aber vor allem Besitz von seinem Kopf genommen haben. Viel mehr braucht der Film nicht, um zu erzählen, wie es Wörz geht.
Und dann ist da der andere Held des Films, sein Anwalt Hubert Gorka, gespielt von Felix Klare. Gorka ist im wahren Leben ein berühmter Anwalt geworden durch den Fall Wörz. Der Film zeigt aber, dass da einer für die gerechte Sache kämpft, Stunde für Stunde, Nacht für Nacht.
Harry Wörz hat den Film bereits im Januar gesehen, bei der Premiere. Er hat sich gefreut, aber sein Alltag sieht immer noch so aus: Er wacht nachts auf, liest sich durch die Akten. Er hat Angstzustände. Der Sohn der Ex-Frau möchte keinen Kontakt. Neulich hat er ihn im Supermarkt gesehen. Er ist jetzt auch Polizist.
Süddeutsche.de
Der Film lief am Mi, 29.01.14 und man kann ihn noch in der ARD-Mediathek ansehen. (link entfernt)
Anschließend an den Film gab es eine Diskussion bei Anne Will, auch noch zu sehen in der Mediathek. ste.anne-will
Und hier ist die Seite von Harry Wörz, auf der man sich über den Fall informieren und auch für ihn spenden kann. Inzwischen gibt es eine Petition "Sucht den wahren Täter" (auch auf der Seite). harrywoerz.de
Da der Film nicht mehr in der ARD-mediathek zu sehen ist, hier das YT-Video:
Zuletzt von Sunflower am Fr 7 Feb 2014 - 21:27 bearbeitet; insgesamt 3-mal bearbeitet
Gast Gast
Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Mo 3 Feb 2014 - 13:11
Gespräch mit Harry Wörz "Ich möchte die Leute gerne wachrütteln"
Wie ist das, sich selbst und der eigenen Geschichte im Film zu begegnen? Finden Sie sich darin wieder? Wörz: Ich habe den Vorteil, dass Gunther Scholz drei Dokumentarfilme über mich gemacht hat. Trotzdem hat es mich sehr ergriffen, den Film zu sehen, weil die ganze Geschichte sofort wieder ganz da war.
Im Film ist der Professor, der den Lügendetektortest durchführt, der Erste, der Harry Wörz nach seiner Beteiligung fragt. Das ist ein beeindruckender Moment. Welche Bedeutung hatte dieser Moment für Sie? Ich habe es erlebt. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Und es spiegelt die Polizeiarbeit, dass ich nie gefragt wurde, ob ich mit der Tat was zu tun habe.
Ist bei Ihnen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Justiz und der Polizei übriggeblieben? Na klar, wenn die Polizei Akten fälscht beziehungsweise Akten zurückhält, Akten nicht ans Gericht weitergibt und so weiter, wenn Asservate aus der Asservatenkammer verschwinden, muss man nichts schön sprechen. Wenn der Staatsanwalt aus Pforzheim die Hauptakten mit den Seitenakten aus Versehen vertauscht und das kommt erst sieben Jahre später, 2005, heraus, dann ist das in meinen Augen eine bodenlose Frechheit. Glauben Sie, dass Sie Ihre Erlebnisse, die Zeit im Gefängnis und die lange, lange Wartezeit auf Prozesse und Urteile je verarbeiten oder überwinden werden? Nein.
Wie wichtig waren Ihre Frau und Ihre Unterstützer für Sie?
Ich wäre nie so weit gekommen ohne meine Frau, Tochter und Freunde. Das sind die eigentlichen Kämpfer. Und dann Menschen wie Gunther Scholz, der über mich berichtet hat. Oder meine Freunde, die die Internetseite ins Leben gerufen haben, die sehr, sehr wichtig war. Da hat sich ein richtiges Netz gebildet.
Sie haben Ihre Geschichte für diesen Film zur Verfügung gestellt. Versprechen Sie sich bestimmte Wirkungen, wenn der Film ausgestrahlt wird? Ich möchte die Leute gerne wachrütteln, damit sie nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Als die Polizei ganz am Anfang meine Verhaftung bekanntgegeben hatte, sind die Zeitungen über mich hergefallen. Erst mit der Zeit haben alle ihre Meinung geändert. Nur die Leute, die mich kannten, haben den Berichten nicht geglaubt. Und insgesamt darf so etwas nicht wieder vorkommen. Die Gerichte müssen die Ermittlungen der Polizei hinterfragen. In meinem Fall hat es bis 2009 gedauert, bis das Strafgericht das gemacht hat.
dasErste
Fleur Moderator
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Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Mo 3 Feb 2014 - 21:59
Danke für diesen sehr interessanten Tipp, Sunflower! Ich werde mir den Film auf jeden Fall noch ansehen!
Gast Gast
Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Di 4 Feb 2014 - 13:51
Ich habe hier noch einen guten Artikel, in dem u.a. die psychischen und physischen Auswirkungen beschrieben sind.
Harry Wörz ist selbst fernsehen zu riskant
Harry Wörz ist das bekannteste Justizopfer Deutschlands. Viereinhalb Jahre saß er hinter Gittern. Inzwischen wurde er rehabilitiert, doch sein Leben blieb ein Gefängnis. Nun wurde es verfilmt.
Im Automatikmodus funktioniert er ganz gut. Es ist ein Dienstag im Januar, und im SWR-Fernsehstudio in Stuttgart wird der neue Spielfilm "Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz" der Presse gezeigt. Harry Wörz sieht ihn sich nicht selbst an, aber am Ende betritt er den Raum und sagt: "Ich finde den Film gut."
Er wird vor ein Filmplakat geschoben, die Fotografen reihen sich vor ihm auf, er lächelt. In der fünften Etage warten in Gruppen Journalisten, Dutzende wollen ihn sprechen. An der Tür der für ihn reservierten Garderobe klebt ein Schild mit seinem Namen. "Extra für mich", sagt er und grinst.
Er kramt eine kleine Digitalkamera aus der Hosentasche und knipst das Schild. Abends wird der Film noch einmal gezeigt, es kommen ein paar Freunde. Um Mitternacht geht er nach Hause. Niemand ahnt, wie es wirklich um ihn steht.
Soll Frau mit Schal stranguliert haben
Harry Wörz' Unheil begann mit einem Beinahe-Mord. In der Nacht auf den 19. April 1997 wurde in einem Haus in Pforzheim eine Frau mit einem Schal stranguliert. Das Opfer war Wörz' Ehefrau, er lebte getrennt von ihr. Die Frau überlebte schwer verletzt, sie liegt bis heute im Wachkoma. Sie kann nicht sagen, wer ihr das angetan hat.
Die Polizisten sagten damals, der Wörz, der wollte doch das Sorgerecht für seinen Sohn; der hat es ihr angetan. Harry Wörz, Motorradfahrer, spontan, das, was man ein Energiebündel nennt, wurde verhaftet, eingesperrt und verurteilt.
Er saß viereinhalb Jahre im Gefängnis, dann kam er frei, weil ein Gericht an seiner Schuld zweifelte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe seine Unschuld Ende 2010 endgültig bewiesen wurde. Gleichzeitig kam ans Licht, wie Polizisten und Staatsanwälte geschlampt und einseitig ermittelt hatten. Harry Wörz ist in all den Jahren immer kleiner geworden, so sah es zumindest aus, wenn man den Fall im Fernsehen verfolgte. Heute ist er 47 Jahre alt.
Angst vor den Herrschaften am Nachbartisch
Eine Woche nach der Filmvorführung in Keltern, in einer 9000-Einwohner-Gemeinde im Enzkreis, Baden-Württemberg. Scharfkurvige Landstraßen, farblose Felder, ein grauer Schleier auf allem. Harry Wörz hat das Restaurant "Grenzsägmühle" für ein weiteres Treffen vorgeschlagen. Es liegt nur zehn Kilometer entfernt von Pforzheim, seiner Heimatstadt. Am Telefon hatte er gesagt, er komme mit seinem Renault Twingo, "das ist mein Porsche". Da hatte er wieder gelacht.
Er betritt das Restaurant ganz langsam. Er verharrt am Eingang und blickt in den großen Raum. Er sieht eine Gruppe älterer Herren am Tisch ganz rechts und eine Mutter mit ihrer Tochter ganz links. Er fühlt sich nicht wohl. Die älteren Herrschaften sind ihm nicht geheuer: "Die würden alles mithören."
Er bittet die Kellnerin um einen Platz im Nebenzimmer, aber sie sagt: "Da kommen gleich Leute." Er fragt, ob Nordin da sei, der Chef, ein Freund. Nach fünf Minuten kommt Nordin, "du darfst sitzen, wo du willst", sagt er. Er bekommt einen Platz im Nebenraum, acht Tische stehen hier, noch ist keiner besetzt. Jemand schließt die Tür, er holt tief Luft.
Der Restaurantchef steht am Tisch und blickt seinen Freund an. "Was die mit dir gemacht haben!", sagt er. "Der Harry, der hat immer Gas gegeben. Der war ein Lebemann. Jetzt ist er wie ausgewechselt."
"Ich finde keine Ruhe"
Er isst ein Schnitzel mit Spätzle, er sagt, dass die Leute zu ihm sagen: "Mensch Harry, dir geht's ja endlich besser." Sie sagen das, weil er auch gar kein Mitleid will. Er schalte für sie in den Automatikmodus. Eigentlich sei es ganz anders. "Ich kann mich nicht freuen", sagt er: "Ich finde keine Ruhe." Das liegt an den Akten. Mitten in der Nacht, zwischen halb drei und viertel vor drei, wacht er auf. Im Schlafanzug setzt er sich zu ihnen. Er sortiert sie neu. Er studiert sie. Er lernt sie auswendig. Er dreht und wendet die Fakten, um sie sich von allen Seiten anzusehen. Er sagt, er brauche die Akten wie die Luft zum Atmen. Denn hier steht schwarz auf weiß: Er ist unschuldig.
Er zieht vier Ordner aus seiner Tasche. Die wichtigsten Akten, die Urteile, die jüngsten Zeitungsartikel und den Schriftverkehr mit der Generalstaatsanwaltschaft hat er immer dabei, ohne sie geht er nicht aus dem Haus.
Dass die Akten ihn retten können, lernte er in der Gefängniszelle. Dort begann er, sie zu studieren. Er fand heraus, dass die Polizisten einseitig ermittelt hatten. Dass sie den Vater seiner Ex-Frau – einer ihrer Kollegen – frühzeitig als Täter ausgeschlossen hatten. Dass sie auch ihren neuen Freund als Täter nicht in Betracht gezogen hatten. Asservate waren verschwunden, die Staatsanwaltschaft hatte Haupt- und Seitenakte vertauscht. Wörz und seinem Rechtsanwalt gelang es, dass die Schadensersatzklage der Eltern abgewiesen wurde – wegen erheblicher Zweifel an der Schuld des Angeklagten, wie der Richter sagte.
Es kam zu einem Wiederaufnahmeverfahren, Wörz wurde aus der Haft entlassen. Im Oktober 2005 wurde Harry Wörz freigesprochen, aber der Bundesgerichtshof hob den Freispruch auf. In einem weiteren Prozess im Jahr 2009 wurde der Angeklagte erneut freigesprochen, die Revision verwarf der Bundesgerichtshof im Jahr 2010.
Als würde ihm niemand ein Wort glauben
Ein paar Tage nach diesem letzten Urteil saß er im Haus eines befreundeten Ehepaares in Pforzheim und sagte, dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war. Schon damals klammerte er sich an seine Akten und sagte, die Akten sind mein Leben. Alles, was er behauptete, belegte er mit Papieren.
Es war auch damals noch so, dass er das Gefühl hatte, er müsse etwas beweisen. Als würde ihm niemand ein Wort glauben – auch wenn kein Staatsanwalt oder Richter zugegen war.
"Ich habe einfach Angst", sagt er heute. Theoretisch könnte hinter jeder Ecke der Feind lauern. Oder am Tisch nebenan im Restaurant. Oder am Telefon. Wörz gibt so gut wie niemandem seine Nummer. Man kann ihm eine E-Mail schreiben, dann ruft er mit unterdrückter Nummer zurück. Oder er leiht sich das Handy eines Freundes.
"Die Leute könnten Schlechtes von mir denken"
Es muss sehr schwer gewesen sein, ihn zu überzeugen, dass sein Fall verfilmt werden muss. Im ARD-Film ist zu sehen, wie Harry Wörz mit seinem Motorrad über Landstraßen rast. Er war Mitglied in einem Motorradklub. Nach seiner Freilassung musste er die Kawasaki Z1000 verkaufen, um die Anwaltskosten bezahlen zu können. Vor eineinhalb Jahren haben Freunde Geld für ihn gesammelt, ihm gegeben und gesagt: "Hol dir wieder eine Maschine, Harry!" Er entschied sich wieder für eine Kawasaki Z1000. Gut sei das gewesen, sagt er. Zumindest für einen kurzen Moment. Doch dann dachte er: "Die Leute könnten Schlechtes von mir denken, wenn sie mich mit dem Motorrad sehen."
Harry Wörz will ein neues Leben. Aber so einfach ist das nicht.
Er schließt die Augen und legt die Hand auf seine Stirn, das macht er ständig. Er zuckt zusammen, wenn Messer und Gabel zusammenstoßen. Er sagt, es höre sich an wie damals, wenn der Schlüssel ins Schloss seiner Zelle gesteckt wurde. Hört er ein Martinshorn, fürchtet er, dass man ihn holt.
Tagsüber ist er stundenlang allein
Er stützt sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. Tags zuvor traf er sich mit einem Team von "Anne Will" zum TV-Interview. Sein Hausarzt war dabei, der Mann sorgte sich um ihn. Er ist seit 2010 krankgeschrieben, posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angstzustände und Schlaflosigkeit. Sein Adrenalinspiegel sei viel zu hoch, dauerhaft, sagen die Ärzte.
Wie soll das gehen mit dem neuen Leben?
Er hat noch einmal geheiratet, das war nach der Haftentlassung. Er und seine Frau haben eine neun Jahre alte Tochter. Wenn er morgens hört, dass die beiden wach sind, schleicht er in die Küche und macht das Frühstück. Ab und zu holt er Holz für den Kaminofen. Mehr schafft er nicht. Seine Frau arbeitet, tagsüber ist er stundenlang allein.
Bücher?
Kann er nicht lesen, er kann sich schlecht konzentrieren und sich kaum etwas merken.
Fernsehen?
Zu riskant. Er könnte ein Polizeiauto sehen.
"Das Schlimme ist, dass diese Sache nicht vorbei ist"
"Die Tage ziehen so vorbei. Wenn man nachts nicht schlafen kann, läuft man tagsüber rum wie Falschgeld", sagt Harry Wörz, der gern etwas ändern würde. Aber was? Und wie? Sein Psychologe sagt: "Ihr Kopf ist zu 90 Prozent voll mit dieser Sache." Sein Arzt sagte bei einer Untersuchung, heben Sie Ihre rechte Hand, aber sie gehorchte nicht. Die linke? Auch nicht. Wörz saß einfach nur da.
"Das Schlimme ist, dass diese Sache nicht vorbei ist", sagt Harry Wörz. Sein Sohn, der zur Zeit der Tat zwei Jahre alt war und sich im Nebenzimmer aufhielt, wuchs bei seinen Großeltern auf, die Harry Wörz auf Schadensersatz verklagten. Der Teenager will keinen Kontakt mit seinem Vater. Harry Wörz hat mehrmals versucht, Kontakt aufzunehmen, ohne Erfolg. Vor zwei Jahren hat er ihn zuletzt gesehen, zufällig, an einem Supermarkt, in Uniform. Der Sohn von Harry Wörz macht eine Ausbildung bei der Polizei.
Das Geld, das Harry Wörz zusteht, ist weg. Er streitet mit dem Staat um Entschädigungszahlungen. 1672 Tage saß er im Gefängnis, 25 Euro pro Tag stehen einem zu Unrecht gefangen Gehaltenen in Deutschland zu, abzüglich Kost und Logis. Das Geld hat Wörz bekommen, aber er hat 200.000 Euro für Rechtsanwälte und Fahrtkosten ausgegeben. Er musste seinen Job als Bauzeichner aufgeben, er ist heute krank und kann nicht mehr arbeiten. Er bekommt eine mickrige Rente. Er hat Schulden. Die Generalstaatsanwaltschaft schrieb ihm vor zehn Monaten, sie könne die Angelegenheit "wegen vorrangiger Dienstgeschäfte nicht abschließend überprüfen".
Neues Leben?
Manchmal, ganz kurz, sei da so was wie Glück. Samstagmorgens, wenn er mit seiner Familie frühstücke. "Das ist so schön", sagt er.
Am Ende hat er Schwierigkeiten, aufzustehen. Der Kreislauf. Er atmet schwer. Langsam packt er seine Sachen und zieht seine Jacke an. Der Nebenraum ist immer noch fast leer, aber am Tresen sitzen Männer und trinken Bier. Die Leute erkennen ihn. "Harry, wie geht's?", rufen die Männer: "Danke, gut", ruft Wörz und geht schnell aus dem Raum, in den er so langsam reingegangen war. Draußen sagt einer: "Da ist er ja, der Harry, unser Filmstar." Der Filmstar lacht.
Automatikmodus an.
welt.de
Zuletzt von Sunflower am Fr 7 Feb 2014 - 21:34 bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
komet13
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Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Di 4 Feb 2014 - 21:48
ja, mich hat der film und die sich daran anschliessende diskussion (auch) sehr mitgenommen...
ich fands unfassbar, ein anders wort trifft es nicht, dass so etwas geschehen kann.. nicht irgendwo, sondern hier, in unserem demokratischen rechtsstaat..
ich finde es momentan gut, dass anne will das 'thema' gut gemanagt hat..
das grundsätzliche problem bleibt - für mich - jedoch bestehen..
voreingenommenheit..
liebe grüsse
Gast Gast
Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Fr 7 Feb 2014 - 21:33
Komet 13 schrieb:
ich finde es momentan gut, dass anne will das 'thema' gut gemanagt hat..
... es bleibt die Frage "Wird sich was ändern"?
Den Film habe ich im ersten Post eingestellt.
komet13
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Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz So 9 Feb 2014 - 21:28
ob sich was ändern wird.. diese frage kann ich natürlich nicht beantworten..
nur..ich denke, es ist wichtig, ein solches brisantes thema (es gibt ja noch ...zig andere ) in die öffentlichkeit zu holen..
ich bin halt von natur aus ne kämpferin...drum hoffe ich auf veränderung...und wenn es nur bei einigen menschen sein sollte..auch so kann sich etwas in bewegung setzen..
Gast Gast
Thema: Harry Wörz klagt gegen den deutschen Staat Di 29 Apr 2014 - 13:14
In dieser Woche wurde Justizopfer Harry Wörz eine weitere Entschädigung zugesprochen. Mit der Höhe ist der Mann nicht einverstanden. Er spricht von einer "Frechheit" und kündigt eine Klage an.
Dreieinhalb Jahre nach seinem endgültigen Freispruch steht Justizopfer Harry Wörz vor einem erneuten Gerichtsprozess. Im Gespräch mit der "Welt" kündigte der 47-Jährige an, den Bescheid über eine weitere Entschädigungszahlung nicht zu akzeptieren. "Ich werde Klage einreichen", sagte Wörz. "Man muss mir viel, viel mehr nachbezahlen als in dem Schreiben steht. Es ist eine Frechheit."
Am Donnerstag hatte ihm die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe mitgeteilt, dass er "wegen strafverfolgungsbedingter Erwerbsunfähigkeit" eine weitere Entschädigung erhält. Über die Höhe der Summe schweigen sich die Parteien aus, nach Informationen der "Welt" ist sie um mehr als 50 Prozent niedriger als von Wörz gefordert.
Der gelernte Bauzeichner ist eines der prominentesten Opfer von Fehlurteilen der deutschen Justiz. Im April 1997 war seine getrennt von ihm lebende Ehefrau mit einem Schal stranguliert worden. Sie ist seitdem schwerbehindert. Wörz wurde verhaftet und wegen versuchten Mordes verurteilt. Viereinhalb Jahre saß er im Gefängnis.
In einem Wiederaufnahmeverfahren, in dem eklatante Fehler der Polizei und Staatsanwaltschaft ans Licht kamen, wurde Wörz freigesprochen. Endgültig bestätigt wurde der Freispruch erst im Dezember 2010 vom Bundesgerichtshof – knapp 13 Jahre nach seiner Verurteilung.
25 Euro für jeden Tag in Haft
Wörz leidet seit Jahren unter Depressionen, er ist krankgeschrieben und kann seinen Beruf nicht mehr ausüben. Im Jahr 2011 hatte er im Haftentschädigungsverfahren 41.900 Euro - also 25 Euro pro Tag in Haft - für den erlittenen immateriellen Schaden, und eine unbekannte Summe für den materiellen Schaden erhalten.
In dem nun beendeten Verfahren ging es unter anderem um Zuschüsse zu seiner Rente, die aktuell laut Wörz "weit unter dem Armutssatz" liege. Mit der zugesagten Aufstockung durch den Staat ist er nicht einverstanden, daher will er nun vor das Landgericht Karlsruhe ziehen. "Man könnte hier von Betrug sprechen", sagte Wörz, dessen Geschichte im Februar als Spielfilm in der ARD lief.
Neben seiner finanziellen Lage lässt ihn vor allem ein Gedanke nicht los: dass der wahre Täter bis heute nicht gefunden wurde. Im Januar 2014 hatte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. "Im Ergebnis konnte gegen keine Person ein hinreichender Tatverdacht begründet werden", heißt es in der Begründung.
Wörz hat für das Ende der Suche nach dem Täter kein Verständnis. Er hat auf seiner Homepage eine Onlinepetition eingerichtet, mit deren Hilfe die Justiz dazu gebracht werden soll, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. "Es gilt mit dieser Petition, das Urvertrauen in unser Rechtssystem wieder herzustellen", heißt es. Rund 2500 Unterschriften wurden bislang gesammelt. Harry Wörz sagt: "Die Justiz muss den Täter finden und verurteilen."
Artikel vom 19.04.14 Welt.de
Anm. Inzwischen sind es etwas über 2700 Unterschriften.
komet13
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Thema: Re: Unter Anklage: Harry Wörz Di 29 Apr 2014 - 23:27
liebe sunflower, danke für deine aktuelle nachricht..
ich denke, was ihm finanziell (für sein 'verlorenes leben' ) zusteht... wird niemals 'gerecht' sein..
wenn du einen link zu seiner petition hast, stell ihn doch bitte ein.. ich würde auf jeden fall unterschreiben!